Es liegt im Wesen der Fotografie, daß sie den abgebildeten Ausschnitt der Welt isoliert, ihn aus dem Zusammenhang einer Landschaft, eines architektonischen Ensembles, eines Ereignisses reißt. Doch fügt sie ihre Bilder auch wieder in neue Kontexte ein. Der Betrachter nimmt ein Foto stets in einem Rahmen wahr – dem einer Ausstellung, eines Werbetextes oder, wie das obige Foto, einer Zeitungsseite – und macht ihn so zu einem Mosaikstein in einem größeren Ganzen, das der Photograf nicht kannte.
Unser Foto trägt als Titel nur Entstehungszeit und Ort: „Trimmelkam, Oberösterreich, Austria, 2000“. Was zeigt es? Eine offenbar natürlich entstandene Struktur, eingeschlossene Luftblasen auf einer Eisfläche. Doch wie kann man sich die Licht-und-Schatten-Spiele dahinter erklären? Also doch eine – künstliche – Glaskonstruktion oder vielleicht beides: Eis auf einer Glasoberfläche? Solche Uneindeutigkeiten finden sich zahlreich im Werk des in Salzburg lebenden Fotokünstlers Reinhart Mlineritsch. Seine Motive sind vielfältig: Landschaftsaufnahmen finden sich ebenso wie Industrie- und Architekturfotografien, Naturstudien in extremer Nahaufnahme und verfremdete Detailstudien von Alltagsgegenständen. Doch was beim flüchtigen Hinschauen etüdenhaft und willkürlich scheint, offenbart auf den zweiten, fast bei jedem Bild nötigen Blick eine paradoxe Ästhetik: Gerade durch allergrößte Schärfe und Kontrastreichtum fällt der Gegenstand einer optischen Unschärferelation anheim. Die hügelige Landschaft aus der Vogelperspektive ist tatsächlich eine ausgelegte Kunststoffolie (oder eher eine erstarrte Lackoberfläche?); transparente Müllsäcke erscheinen als Gesteinsformationen.
In Analogie zu den stets leicht kommerzialisierbaren „Naturwundern“ – in einigen wunderbar ausgeleuchteten Aufnahmen von Höhlen und Grotten auch vertreten – müßte man bei Mlineritsch von „Kultur“ – oder besser noch „Zivilisationswundern“ sprechen: In geometrischen Mustern schillernde Plastikfolien, Baggerspuren in einer riesigen Baugrube, vegetativ wuchernde Kabelenden, Schläuche, Kettenglieder – was dem normalen, immer noch der Romantik verhafteten Blick als häßlich, als Verschandelung der Natur erscheinen muß, wird unter einer artifiziellen Schattenregie zum abstrakten Kunstwerk. In der direkten Gegenüberstellung von organisch Gewachsenem und Gemachtem – etwas von Eiszapfen-Stalaktiten und einem Wald aus Stützpfeilern im Rohbau – wird die Grenze zwischen Welt und Werk selbst zum Thema des Bildes. Mlineritsch zeigt, daß der Begriff einer Natur, die die Schönheit immer schon auf ihrer Seite hat, Folge einer Normierung der Wahrnehmung ist. Oder, in einer Urformel der Ästhetik: daß ein gelungenes Kunstwerk so zwingend wie die Natur selbst erscheint. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Dezember 2003).