Schimmer im Dunklen

Das Fahrrad, das der englische Fotograf Ian Wiblin Mitte der 1990er Jahre bei starker Dunkelheit aufgenommen hat, wirkt wie gezeichnet. Unwillkürlich denkt man an den Fahnenträger von Urs Graf, der 1514 mit weißer Tusche auf dunkel grundiertem Papier skizziert worden ist. Da wie dort spiegeln die glatten Flächen aus Metall ein wenig das Licht: Lenker und Teile der Gabel und des Rahmens beziehungsweise die Fahnenstange und blanke Stellen der Rüstung. Diese hellen Striche verlangen vom Betrachter, Relationen herzustellen und den spärlichen Anschein zu einem plastischen Gebilde zu vervollständigen. Noch in anderer Hinsicht sind solche Darstellungen reizvoll: Die abgebildeten Objekte scheinen oftmals zu schweben, als hätten sie mit den fehlenden Partien zugleich den Boden unter den Füßen verloren.

In diese Welt des Ungefähren entführt uns der 1950 in Wien geborene und in Salzburg lebende Fotokünstler Reinhart Mlineritsch. Allerdings verwendet er dazu andere Mittel. Denn nicht immer hüllt das Dunkel die Dinge ein und entrückt sie, sondern vielfach sind es bloß einzelne Teile, die im Schatten liegen, oder lediglich Ansichten, die eine düstere Stimmung hervorrufen: Mauern, die vom Verfall zeugen; Brücken, die sich über nicht erkennbare Tiefen wölben; Selbstbildnisse mit melancholischen Zügen; trübe Gewässer; schwarze Wälder; verlassene Plätze; blinde Spiegel; bedrohlich wirkende Landschaften. Die Dunkelheit wird metaphorisch aufgefasst, oder anders: Es ist ein besonderer Blick, der nichts nimmt, wie es scheint, sondern nach den Geheimnissen fahndet, die sich in den Erscheinungen verbergen.

Dem Fotografen geht es nicht um Analyse oder Inszenierung, sondern um Aufdeckung, um die Sichtbarmachung eines Anderen, das den Dingen neben ihrer Oberfläche anhängt. Mlineritsch lüftet nicht deren Geheimnisse, sondern lässt sie ihnen; er zeigt auf die kryptischen Momente, aber er benennt sie nicht. Die Fotografie ist ihm ein Mittel der Vorführung des Rätsels im Alltäglichen. Was ihn interessiert, wird ins Zentrum gesetzt, die Kamera geht frontal auf ihre Objekte zu, nur ganz selten werden Fluchten in leichter Diagonale gesehen. Ob aus nächster Nähe oder in einiger Entfernung, alle Einzelheiten sind deutlich zu erkennen, das Unbekannte liegt nicht in unscharfen Konturen, sondern im Verlauf von Hell und Dunkel, in manchen Übergängen, im Dazwischen. Der Ausschnitt begrenzt das Terrain, in dem die Geheimnisse ihren Ausdruck finden.

Mlineritsch praktiziert die hohe Kunst der Schwarzweiß-Fotografie, der Verlag hat darauf Wert gelegt, dass die zwischen 1993 und 2006 entstandenen Aufnahmen in ausgezeichnetem Druck wiedergegeben worden sind. Nahezu alle Abbildungen weisen dieselben Maße auf, und das Querformat, in dem die meisten Bilder gehalten sind, verschafft diesen einen festen Stand. Trotz gleicher Form und Ausrichtung kommt – auch bei mehrfacher Durchsicht – niemals Monotonie auf. Die Gegenüberstellungen sind sorgsam gewählt, selten in den Motiven oder deren Gestalt korrespondierend, vielmehr als zwei Ansichten dargeboten, deren gleichgewichtiges Nebeneinander eine Atmosphäre der Ruhe erzeugt und doch eine verhaltene Spannung verrät.

Ein ganz wunderbares Buch! Ich stelle es in die Reihe der besonderen Publikationen zeitgenössischer Fotografie, jene Bücher, deren Bilder gleichfalls von der Dämmerung künden, von aufmerksamen und zugleich erstaunten Blicken, von den Zwischentönen, vom Erwachen, wenn alles plötzlich Klarheit erlangt, während die Träume gerade noch präsent sind. (© Timm Starl, August 2007, www.fotokritik.at).